Freitag, 8. März 2013

“Mörder fotografierten meinen Vater beim Sterben” - DIE WELT

Die Terrorzelle NSU ermordete Semiya Simseks Vater. Jetzt spricht die 26-Jährige über zweifelhafte Verhörmethoden, falsche Verdächtigungen, die Trauer – und ihre Erwartungen an Beate Zschäpe.

Von Per Hinrichs

Sie gab den Hinterbliebenen der Opfer der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) ein Gesicht: Semiya Simsek, 26, sprach vor einem Jahr bei der Gedenkveranstaltung für die Familien der Getöteten. Nun hat sie ein Buch ("Schmerzliche Heimat", Rowohlt, 272 Seiten) geschrieben, das am Freitag erscheint. Es handelt vom Verlust ihres Vaters – und den Verdächtigungen der Polizei gegen ihre Familie.

Die Welt: Frau Simsek, Sie haben ein Buch über die Ermordung Ihres Vaters und die danach folgenden Ermittlungsfehler geschrieben. Darin schildern Sie die zum Teil haarsträubenden Fehler und Verdächtigungen der Polizei. Wie gingen Sie damals damit um?

Semiya Simsek: Es war eine schlimme Zeit. Die ganzen Jahre über hatte die Polizei meine Familie im Visier, ging davon aus, dass wir in die Tat verstrickt waren. Ein Beamter hat einmal meiner Mutter ein Foto einer Frau gezeigt und gesagt: Das ist die Freundin Ihres verstorbenen Ehemannes. Er hat zwei Kinder mit ihr gehabt, eine zweite Familie gegründet. Meine Mutter sagte nur trocken, dass diese Kinder in diesem Fall herzlich bei uns aufgenommen seien. Wir waren die Opfer und durften es nicht sein. Da kamen wir wirklich an unsere Grenzen.

Die Welt: Sie hat dem Polizisten nicht geglaubt?

Simsek: Zum Glück nicht. Es war sehr verletzend und demütigend, aber sie hat das Spiel durchschaut. Mich haben sie als 14-Jährige gefragt, wie ich das denn finde, dass ich noch zwei Geschwister habe. Das hat mich schockiert. Später hat die Polizei zugegeben, dass das nur ein Trick war, um uns aus der Reserve zu locken. Solche Vernehmungsmethoden hielt ich in diesem Land für undenkbar.

Die Welt: Ihr Vater wurde auch des Drogenschmuggels bezichtigt. Wie kam es dazu?

Simsek: Ein wegen Drogenhandels verurteilter Häftling gab an, dass mein Vater bei einer Kurierfahrt nach Holland Streckmittel für Heroin transportiert hatte. Die Geschichte stimmte nicht, wurde von der Polizei jahrelang nicht überprüft, aber uns immer und immer wieder vorgesetzt. Erst nach fünf Jahren ging ein neuer Beamter dieser Spur nach und fand heraus, dass alles erlogen war. Offenbar wollte der Informant sich einen Aufenthaltstitel oder Hafterleichterungen erschleichen. Natürlich fuhr mein Vater einmal die Woche nach Holland, aber doch nur, um Blumen für seinen Großhandel zu kaufen. Diese banale Erklärung genügte nicht, es musste mit Drogen zu tun haben. Es musste ein krimineller Hintergrund für den Mord her, mein Vater musste für die Polizei ein dunkles Geheimnis haben. Eine andere Erklärung gab es nicht.

Die Welt: Haben Sie für sich eine Erklärung gefunden, warum so viel schiefgelaufen ist?

Simsek: Eine Erklärung sind die Vorurteile gegenüber Ausländern und Türken, die tief in den Köpfen verwurzelt sind. Diese Prägungen haben die Ermittlungen über die Jahre beeinflusst und in die eine, falsche Richtung gelenkt.

Die Welt: Haben wir ein größeres Problem mit Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, als wir uns das eingestehen wollen?

Simsek: Vor dem 4. November 2011 hätte ich diese Frage mit Nein beantwortet. Ich selbst war nie Anfeindungen ausgesetzt und habe keine fremdenfeindlichen Erfahrungen gemacht. Heute sehe ich das anders.

Die Welt: Als der Mord am 4. November 2011 aufgeklärt wurde, waren Sie da erleichtert oder bedrückt über die wahren Hintergründe?

Simsek: Beides. Wir waren natürlich froh, dass die Täter nun bekannt waren und dass es keine neuen Opfer mit der Ceska geben würde. Auf der anderen Seite fragen wir uns natürlich, wie sicher wir in Deutschland sind und ob wir hier erwünscht sind. Wir, die wir hier geboren sind, zählen uns zu den Deutschen. Aber zählen wir für Deutschland? Ich glaube nicht. Das Trio hatte doch eine Botschaft: Wir können morden und rauben, wie wir wollen, ihr seid nicht sicher. Mit dieser Unsicherheit wurden wir lange alleine gelassen.

Die Welt: Ihr Vater könnte als Musterbeispiel für einen gesellschaftlichen Aufstieg gelten. Warum hat es ausgerechnet ihn getroffen?

Simsek: Das wissen wir leider auch nicht, das ist eine quälende Frage. Mein Vater, der 1985 nach Deutschland einwanderte, hat sich mit viel Fleiß und Ehrgeiz vom Fabrikarbeiter zum Blumengroßhändler hochgearbeitet, sehr gut verdient und bis zu 80 Stunden in der Woche gearbeitet. Und jetzt schauen Sie sich mal den Lebenslauf derjenigen an, die ihn getötet haben: Banküberfälle, Morde. Und sonst? Was haben sie in ihrem Leben auf die Reihe bekommen? Nichts. Aber sie haben sich als eine Art Elite aufgeführt, die sich das Recht nimmt, Ausländer zu erschießen. Auch die anderen Opfer waren fleißige Unternehmer, angesehene Familienväter, brave Steuerzahler. Das macht mich traurig und wütend.

Die Welt: Im April beginnt der Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Mitangeklagte, dann werden Sie sie das erste Mal sehen. Wie gehen Sie damit um?

Simsek: Ehrlich gesagt, freue ich mich fast schon auf den Prozess. Wir haben jahrelang auf einen Prozess gewartet, wollten wissen, wer es war. Ich bin gespannt darauf, wie sich Beate Zschäpe verhalten wird, auf ihre Mimik und Gestik, ob man so etwas wie Reue herauslesen kann. Ich hoffe, dass sie sich äußert, dass wir wissen werden, was genau passiert ist. Ich habe in den vergangenen 13 Jahren so viele Fragen mit mir herumgeschleppt, auf die ich endlich Antworten haben will.

Die Welt: Löst die Person Beate Zschäpe Gefühle oder Aggressionen aus, oder ist sie Ihnen egal?

Simsek: Egal ist sie mir nicht. Aber ich hasse sie auch nicht. Ich möchte einfach nur Antworten von ihr haben. Warum mein Vater? Ist es ihr bewusst, dass es eine Familie hinter dem Opfer gibt? Was hat sie sich dabei gedacht? Das will ich wissen. Wie hoch die Gefängnisstrafe ausfällt, ist mir persönlich fast egal.

Die Welt: Verfolgen Sie die Arbeit der Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Ländern?

Simsek: Ja, aber was da alles herauskommt, lässt mich ja noch skeptischer werden. Aktenvernichtung, Erinnerungslücken – da werde ich wütend. Aber was soll ich machen?

Die Welt: Bundeskanzlerin Merkel hat die Hinterbliebenen um Entschuldigung gebeten, Bundespräsident Gauck hat Sie zu einem Empfang geladen. Können Sie diese Aufmerksamkeit wertschätzen, oder kommt das in Ihren Augen zu spät?

Simsek: Das ist eine schöne Geste. Aber die elf Jahre zuvor lassen sich natürlich nicht ungeschehen machen. Ich werde die Entschuldigung nur dann annehmen, wenn klar ist, dass wir Angehörige am Strafprozess vernünftig teilnehmen können. Ich wünsche mir, dass die Verhandlung da wieder Vertrauen schafft. Auch mein Bruder und meine Mutter sind Nebenkläger, wir werden alle im Gerichtssaal sein. Und wir hoffen natürlich, dass wir mit dem Urteil auch mit der Sache abschließen können. Wichtig ist für uns, dass alles transparent abläuft. Dieser Prozess sollte unter Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit stattfinden, er muss die logische Antwort auf die Versprechungen der Politiker sein, dass für Aufklärung gesorgt wird.

Die Welt: Der Präsident des Oberlandesgerichts München, Karl Huber, sagte, das Gericht führe "keinen Schauprozess für die Öffentlichkeit". Es soll nur Platz geben für 50 Journalisten und 50 Zuschauer.

Simsek: Dann hat dieser Mann nicht einmal im Ansatz verstanden, um was es hier wirklich geht. Eine rechtsradikale Mordserie, die sich über ein Jahrzehnt erstreckte, muss aufgeklärt werden. Das ist vergleichbar mit den großen RAF-Verfahren der 70er- und 80er-Jahre. Mit einem Schauprozess hat das überhaupt nichts zu tun, sondern mit überfälliger Aufarbeitung und Gerechtigkeit. Beim Breivik-Verfahren in Norwegen waren 800 Journalisten aus aller Welt akkreditiert, und die hatten auch alle Zugang zu der Verhandlung. Das soll in Deutschland nicht gehen? Ich finde das höchst befremdlich und unbefriedigend. Die Entschuldigungen und Versprechungen der Politiker werden durch solche Äußerungen entwertet.

Die Welt: Sie haben die Polizei 2006 zum ersten Mal auf einen möglichen rechtsextremen Hintergrund der Mordserie hingewiesen. Erinnern Sie sich noch an die Reaktion der Beamten?

Simsek: Die haben sogar in der rechtsextremen Szene ermittelt: in der türkischen rechten Szene, bei den Grauen Wölfen, nicht jedoch in der deutschen Szene. Als ich das anregte, sagten die Beamten nur, es gebe keine Bekennerschreiben, das könne nicht sein. Die haben uns nicht ernst genommen. Stattdessen kam wieder die Unterstellung, dass mein Vater eine dunkle Seite gehabt habe, die er vor uns verborgen gehalten habe.

Die Welt: Damals war ja auch von den "Döner-Morden" die Rede. Wie haben Sie diesen Begriff aufgefasst?

Simsek: Ich habe mich nur gefragt, was das soll, denn die meisten Opfer hatten ja gar keinen Imbiss. Wenn es in der Türkei eine Mordserie an Deutschen geben würde, würde ich das doch auch nicht als "Kartoffel-Morde" bezeichnen. Das ist Rassismus pur, das schließt die Opfer aus der Gesellschaft aus. Der Begriff suggeriert, dass da nur kriminelle Türken am Werk waren, die sich untereinander getötet haben. Dabei handelte es sich um einen Angriff auf die freiheitliche Gesellschaft, auf das ganze Land, der nicht als solcher wahrgenommen wurde.

Die Welt: Ein Motiv haben die Täter mit dem zynischen Zeichentrickfilm selbst angegeben. Haben Sie auch das Bekennervideo gesehen – den berüchtigten Paulchen-Panther-Film, in dem die Opfer verhöhnt wurden?

Simsek: Ja, und ich wünschte, ich hätte das Video nicht gesehen. Es war abartig und zynisch, ich habe drei Wochen gebraucht, um mich davon zu erholen. Nachdem die Mörder meinen Vater ins Gesicht geschossen haben, haben sie ihn noch fotografiert, als er im Sterben lag. Das ist wirklich unerträglich. Da liegt mein Vater, um den ich seit Jahren trauere und für den ich Schmerz empfinde, und die machen sich über ihn lustig.

Die Welt: Sie wollen Antworten von Beate Zschäpe. Interessieren Sie auch die Motive von den mutmaßlichen Mördern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, oder reicht Ihnen die Begründung Ausländerhass?

Simsek: Ich habe mich über die beiden informiert und mir auch die Interviews mit den Eltern von Uwe Böhnhardt angeschaut. Aber erfahren habe ich immer noch nicht genug. Die Eltern tun mir übrigens leid. Die können auch nichts dafür, sie sind ja selbst in einer schlimmen Situation.

Die Welt: Sie leben mittlerweile in der Türkei und haben geheiratet. Haben Sie Deutschland den Rücken gekehrt?

Simsek: Nein, ich lebe jetzt erst einmal da, ich weiß noch nicht, wie lange. Es ist keine Abkehr von Deutschland. Im Juli kommt mein Kind zur Welt, das hat dann Vorrang für mich. Nach diesen ganzen Enthüllungen habe ich einen Platz gefunden, habe viel Zeit für mich. Gleichzeitig ist mir bewusst geworden, dass meine türkische Seite viel kleiner ausgeprägt ist als meine deutsche.

Die Welt: Möchten Sie denn irgendwann wieder in Deutschland leben, oder ist das eine Frage, mit der Sie sich nicht beschäftigen?

Simsek: Das weiß ich jetzt noch nicht. Ich verdamme Deutschland gar nicht, ich bin ja selbst Deutsche. Momentan fühle ich mich in der Türkei wohl.

Die Welt: Frau Simsek, wenn Sie an Ihren Vater denken: Welche Erinnerung geht Ihnen da zuerst durch den Kopf?

Simsek: Ich denke gerne an den letzten Sommer zurück, den wir zusammen erlebt haben. Da sitzen wir in seinem Haus in der Türkei und lauschen den Glöckchen der Schafe, die am Berg weiden. Heute nutzen wir das Haus im Sommer. Da fühlte er sich glücklich. Und ich mich auch.

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