Ein Mord, begangen 2002. Der Fall: aufgeklärt. Zu Ende ermittelt. Und doch würde man zehn Jahre nach dem Tod der damals zwölfjährigen Vanessa gerne mehr wissen.
Es sind längst nicht mehr nur die Eltern des Opfers, die sich fragen, warum der Täter in der Nacht am 21. Februar 2002 ausgerechnet in das Kinderzimmer ihrer Tochter eingestiegen ist. Vanessa muss vor Schreck erstarrt sein, als sie den Mann mit der Totenkopfmaske neben ihrem Bett stehen sah. Dann stach der Täter auch schon zu, 21 Mal.
Die Tatwaffe, ein Küchenmesser mit einer 16 Zentimeter langen, fest stehenden Klinge, fand man am nächsten Tag. Auf den Täter, den damals 19-jährigen Michael W., stießen die Ermittler aufgrund von Zeugenaussagen.
Mehrere Menschen hatten in jener Nacht eine Person in der Umgebung des Tatorts in Gersthofen bei Augsburg gesehen als Tod verkleidet. W. gestand die Tat, wurde ein Jahr später, im Februar 2003, vom Landgericht Augsburg wegen Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Mörder könnte Gericht als freier Mann verlassen
Jetzt steht er noch einmal vor Gericht in Augsburg. Seine Strafe hat er abgesessen. Und es könnte sein, dass er das Gericht als freier Mann verlässt. Richter Lenart Hoesch muss an diesem Donnerstag darüber entscheiden, ob er Michael W. in die Freiheit entlässt oder ob er dem Antrag des Staatsanwalts folgt, der für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung plädiert, weil er W. für psychisch gestört und hochgradig rückfallgefährdet hält.
Für den Täter könnte es sich nun als nachteilig erweisen, dass er sich nie klar zur Motivlage geäußert hat. Weder der Polizei noch dem Staatsanwalt, nicht den Gutachtern, die ihn psychiatrisch untersuchten, nicht einmal seinem Verteidiger hat Michael W. gesagt, warum es Vanessa gewesen ist, die sterben musste, ein Mädchen, das er allem Anschein nach nicht kannte.
Ein Zufallsopfer? Gibt es das? Und was sagt das über die Gefährlichkeit des Täters? "Der hat was zu verstecken", sagt der Vater der Ermordeten über W. Auch im Prozess klang bereits an, dass es ein schlechtes Vorzeichen für eine Freilassung sei, wenn der Täter seine Tat nicht wirklich aufgearbeitet hat. Ein Gutachter sprach in diesem Zusammenhang sogar vom "höchsten Rückfallrisiko überhaupt".
Therapie des Täters durch Justiz beendet
Der Verteidiger von Michael W. protestiert: Adam Ahmed hält diese Aussage beinahe für infam denn wenn jemand verhindert habe, dass der Täter sich über sein Verbrechen habe klar werden können, dann sei das die Justiz gewesen. "Ich habe nie einen Mandanten gehabt, der so sehr für eine Therapie gekämpft hat wie Michael W.", sagt Ahmed. "Und wer weiß, wo wir heute stehen würden, wenn er diese Therapie nicht hätte abbrechen müssen."
Es war der Antrag des Staatsanwalts auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, der Michael W. seinen Therapieplatz in Erlangen kostete: "Als der Antrag kam, hat man vor über einem Jahr, am 30. März 2011, gesagt: So, jetzt ist die Therapie zu Ende, W. wurde zurück in die JVA Straubing gebracht, und das", sagt Ahmed, "in dem Moment, in dem man nach Aussagen seiner Therapeutin kurz davor war, ans Eingemachte zu gehen."
Dem vom Gericht bestellten psychiatrischen Sachverständigen Helmut Kury, einem von zwei Gutachtern, habe W. lediglich erzählt, was er getan habe und wie er vorgegangen sei. In seiner Therapie, davon ist sein Verteidiger überzeugt, war Michael W. im Begriff, den nächsten, für ihn und seine Prognose wichtigen Schritt zu tun. Aber dazu kam es nicht mehr. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?
"Fall mit politischer Dimension"
"Es würde mich nicht überraschen, wenn das Gericht dem Antrag des Staatsanwalts folgt", sagt Adam Ahmed. Der Fall Vanessa ist wie der Fall des "Joggerinnen-Mörders", der 1997 in einem Waldstück bei Regensburg eine junge Frau erwürgte und sich danach an der Leiche verging, kein normales Strafverfahren. "Fälle wie diese, in denen es um die nachträgliche Sicherungsverwahrung geht, haben immer auch eine politische Dimension", sagt Ahmed.
Tatsächlich ist es wohl kein Zufall, wenn Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) jetzt, unmittelbar vor der Urteilsverkündung in Augsburg, gegen das Bundesgesetz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung schießt, das im kommenden Jahr in Kraft treten soll. Merk beklagt, dass es "künftig keine Möglichkeit mehr gibt, psychisch gestörte Gewalt- und Sexualstraftäter zum Schutz der Allgemeinheit nachträglich noch unterzubringen".
Sie hat angekündigt, dass sie dazu den Vermittlungsausschuss des Bundesrates anrufen will. Die "Sicherheitslücke" müsse geschlossen werden, sagt die Justizministerin. Man kann das auch als Appell an das Gericht verstehen, das es sich bei der Rechtsfindung auf schwankendem Boden bewegt. Dafür hat unter anderen Verteidiger Adam Ahmed gesorgt.
Nachträgliche Sicherungsverwahrung rechtswidrig
Es ist ein durchaus pikantes Detail, dass er am Zustandekommen des neuen Gesetzes, in dem es die Konstruktion der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht mehr geben wird, beteiligt gewesen ist. Der Münchner Strafverteidiger hat Fälle wie den des "Joggerinnen-Mörders" Daniel I. bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getragen.
Jetzt, nachdem Straßburg und in der Folge das Bundesverfassungsgericht das gesamte Regelwerk zur nachträglichen Sicherungsverwahrung in Deutschland für rechtswidrig erklärt haben, sagt Ahmed: Sowohl Daniel I. als auch Michael W. müssen nach dem Verbüßen ihrer Strafen freigelassen werden.
Das Landgericht Augsburg müsste mit Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung gewichtige Gründe ins Feld führen, um den Mörder der kleinen Vanessa zumindest einstweilen weiter unterbringen zu können.
W. soll elektronische Fußfessel bekommen
Selbst der Gutachter, der Michael W. für hochgradig gefährlich hält, räumt ein, dass viel zusammenkommen müsse, damit sich die von ihm auf über 50 Prozent taxierte Rückfallgefahr realisiert: "Wenn er etwa keinen Job bekommt, frustriert wird, abdriftet."
Dem sei vorgebeugt, sagt Verteidiger Adam Ahmed: Man habe für W. schon einen Platz in einer therapeutischen Einrichtung und eine Arbeitsstelle gefunden. Michael W. müsste sich demnach jeden Tag bei der Polizei melden, bekäme eine elektronische Fußfessel, würde über einen langen Zeitraum von Beamten observiert.
Ihm persönlich bereite der Gedanke an eine Freilassung deswegen kein Unbehagen, sagt Adam Ahmed. "Aber es ist mir klar, dass dieses Unbehagen besteht." Das Gericht muss nun entscheiden, wie viel Raum es ihm gibt.
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