Montag, 3. Dezember 2012

POLITIK: Eine Stadt wird ermordet - FOCUS Online

Durch eine Wand aus Staub sickern Sonnenstrahlen. Mauerstücke und Möbel fallen vom Himmel. Verkrüppelter Stahl hängt von Häuserfassaden. Über der Straße liegt eine schwere Stille. Gestalten entsteigen dem Inferno, wankende und hustende Schatten. Niemand spricht. Ungläubigkeit und Angst stehen in den Gesichtern. Die Augen weit aufgerissen, erstaunt, noch am Leben zu sein. Der Staub verklebt Haare, verkrustet auf schweißnasser Haut, lässt die Menschen ergrauen.

Ein Straßenzug in Aleppo im Norden Syriens: Binnen eines Wimpernschlags werden Anwohner aus dem Leben gerissen, mit der Wucht von zwei Raketen, abgefeuert aus einem Kampfflugzeug der syrischen Armee. Sie treffen das oberste Stockwerk eines Mietshauses, reißen Balkone ab, knacken Mauern. Aus zersplitterten Fenstern züngeln Flammen.

Täglich härter und unerbittlicher wütet als Bürgerkrieg, was im März 2011 als eine Bewegung für Freiheit und Gerechtigkeit begann. Aleppo, einst das kulturelle und kommerzielle Zentrum Syriens, ein zum Weltkulturerbe erklärter Schatz der Baukunst, ist Schlachtfeld dieses Dramas.

Hier leiden Zehntausende Zivilisten, weitgehend unbemerkt von der Welt und ihrer Öffentlichkeit, gleichermaßen belagert von Rebellen und Regierungssoldaten in ihrem blutigen Patt. Kaum ein Tag vergeht ohne Massaker und Kriegsverbrechen auf beiden Seiten.

Als sich der Staub legt, rufen sich die Bewohner des Shaar-Viertels zu, ob jemand verletzt oder getötet wurde, und schreien um Hilfe. Ein einbeiniger Mann hüpft über den Schutt, lehnt sich an den Kotflügel eines Autos, das unter Mauerresten begraben ist. Blut tropft aus einer Wunde auf seiner Stirn, hinterlässt eine Spur. Wieder taucht ein Kampfflugzeug auf wie ein Raubvogel auf der Suche nach Beute. Die Menschen laufen panisch durcheinander. Schutz gibt es nicht.

„Baschar al-Assad hat meine Eltern getötet! Wofür? Wofür?"

Ibrahim hielt sich im Flur auf, als die Rakete das Wohnzimmer traf, in dem sein Vater und seine Mutter vor dem Fernseher saßen. Die Explosion schleuderte ihn gegen die Wand, doch er blieb unverletzt. Er steht im fünften Stock des brennenden Hauses, Rauch quillt durch das Treppenhaus, Freunde und Nachbarn hetzen die Treppen rauf und runter, in den Händen Eimer und Behälter, gefüllt mit Wasser, in dem vergeblichen Versuch, die Flammen zu löschen. Deckenbalken glimmen, Hitze springt ins Gesicht, versengt Haare und Haut. Nebenan im Wohnzimmer verbrennen Ibrahims Eltern.

„War mein Vater ein Terrorist? War meine Mutter eine Terroristin?", schreit Ibrahim und weint. „Baschar al-Assad hat meine Eltern getötet! Wofür? Wofür?" Dann lehnt er sich an die verrußte Wand, schlägt die Hände vors Gesicht und rutscht langsam in die Hocke. Freunde knien sich neben ihn, streichen ihm übers Haar, nehmen ihn in den Arm, schwören, Rache zu üben.

Der Krieg hat sich in Aleppo festgefressen. Das Leben atmet nur noch schwach. In ihren Verstecken lauern die Scharfschützen. Niemand beseitigt den Müll. Die Basare sind verlassen. Vor den wenigen noch geöffneten Backstuben bilden sich lange Schlangen.

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