Die Häuser leuchten in weichen Ockertönen, auf dem Wasser davor dümpeln Ausflugsdampfer, kleine Fischerboote und Segelyachten. Durch die Luft schwirren französische, englische und holländische Sprachfetzen. Frauen, Männer und Kinder legen den Kopf in den Nacken und betrachten ihr auf den Kopf gestelltes Bild in dem riesigen Spiegel, der den Platz vor dem alten Hafen überspannt. Eine Installation von Stararchitekt Norman Foster.
Auf den ersten Blick wirkt Marseille wie eine mediterrane Postkartenidylle. Doch der Eindruck täuscht. Die Hafenmetropole ist in diesem Jahr nicht nur europäische Kulturhauptstadt. Sie ist auch die französische Hauptstadt der organisierten Kriminalität. Kaum eine Woche vergeht, in der kein neues Gewaltverbrechen für Schlagzeilen sorgt.
Fast immer handelt es sich dabei um Abrechnungen im Bandenmilieu, fast immer sind die Opfer junge Männer Anfang 20, fast immer stammen sie aus einem der Problemviertel im Norden der Stadt, fast immer werden sie mit einer Kalaschnikow erschossen. Journalisten könnten eigentlich gleich einen vorproduzierten Artikel verwenden, schreibt das Internetportal Slate.fr.
Soldaten nach Marseille
Der Bandenkrieg in Marseille hat in diesem Jahr bereits 15 Menschenleben gefordert. Das Thema beherrscht in Frankreich längst auch die politische Debatte immerhin stehen im kommenden März Kommunalwahlen an. Die sozialistische Regierung verspricht, die Zahl der Polizisten bis Ende des Jahres aufzustocken. Doch vielen reicht das nicht.
So fordert Ex-Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, zur Bekämpfung der Kriminalität in Marseille auch die Armee einzusetzen. Sie spricht einem Großteil der Bevölkerung aus dem Herzen. Denn laut einer von der "Huffington Post" veröffentlichten Umfrage sind 57 Prozent der Franzosen dafür, Soldaten in die zweitgrößte Stadt des Landes zu entsenden.
An einem kleinen Platz in der Nähe des Vieux Port, dem Herzstück der Innenstadt, strahlen die Säulen der Oper im Sonnenschein. Die Tische der zahlreichen Restaurants in den umliegenden Gassen und Plätzen sind dicht besetzt.
Nichts deutet darauf hin, dass hier, in dem bei Touristen beliebten Herzstück der Stadt, in den frühen Morgenstunden eines Sonntags ein wahrer Kugelhagel niederging, mit Kalschnikows und Automatikpistolen auf drei junge Männer geschossen wurde. Sie überlebten, zum Teil schwer verletzt.
Mit dem Messer in die Notaufnahme
Ein 18-Jähriger hatte Mitte August weniger Glück. Er wurde rund 200 Meter weiter niedergestochen und starb. Seine Mörder wurden ebenfalls verletzt. Sie ließen sich anschließend in der Notaufnahme eines Krankenhauses behandeln. Doch sie konnten entkommen, nachdem sie das Pflegepersonal mit einem Messer bedroht hatten. Beide Anschläge ereigneten sich in den frühen Morgenstunden, bei beiden war es zuvor in Nachtclubs zu Streit zwischen rivalisierenden Banden gekommen.
Und doch fühlen sich die Anwohner in dem Viertel sicher. Ein Gefühl, das man auch in Paris kennt. Kommt es hier zu Schießereien im Bandenmilieu, gibt sich die Nachbarschaft meist unbesorgt: Die Drogendealer hätten es nicht auf die Anwohner abgesehen, sagen sie.
"Die Anschläge zielen nicht auf die Bevölkerung", sagt auch Barmann Michel Tassart aus dem Café Marengo in der Nähe des alten Hafens von Marseille. "Sie gelten nur ganz bestimmten Personen aus dem Milieu."
Sie fühle sich nicht unsicher, sagt eine Verkäuferin eines Ladens in der Nähe der Oper, zumindest während der Geschäftszeiten. "Tagsüber ist das hier ein sehr angenehmes Viertel", erklärt sie. "Aber nachts verwandelt es sich. Da muss man vorsichtig sein, denn es gibt hier leider ein paar Nachtclubs, in denen zweifelhafte Leute verkehren." Das sei bedauerlich: "Das wirft ein schlechtes Bild auf die Stadt. Die Touristen sprechen uns oft auf die Kriminalität an."
Schuld sind nur die Medien?
Daran seien auch die Medien Schuld, findet Kellnerin Sophia El Bahri. Die Berichterstattung sei zu einseitig. "Statt darüber zu berichten, was sich in Marseille alles zum Positiven verändert hat, schreiben sie nur im Zusammenhang mit Gewalt und Verbrechen über unsere Stadt."
Diese Sensationshascherei sei polemisch. Eine Frau in einem geblümten Sommerkleid kommt in die Kaffeerösterei, um zu bezahlen. Aufmerksam folgt sie dem Gespräch. "Die Medien übertreiben stark", sagt sie. "Diese ständigen Berichte über die Gewalt in Marseille tun uns im Herzen weh. Die Stadt hat so viel mehr zu bieten." Das Thema sei wichtig, findet sie.
"Ich habe nie ein Problem gehabt, seit ich in Marseille wohne. Die Banden töten sich untereinander", sagt El Bahri. Die Kundin nickt. "Hier herrscht kein Gefühl der Unsicherheit", sagt sie. Dennoch gibt sie zu, dass etwas getan werden müsste, und dass auch sie überrascht gewesen sei, dass es nun sogar mitten im Zentrum zu Bluttaten gekommen ist. "Vorher passierte so etwas vor allem im Norden der Stadt", sagen beide Frauen.
Krankenwagen kommen nur noch mit Begleitschutz
Die fünf nördlichen, von Autobahnen und Schnellstraßen durchsetzten Arrondissements sind die Problemviertel der Stadt. Die gefährlichsten Ecken gelten als gesetzlose Zone, als eine Art Wilder Westen, in den sich viele Kranken- und Feuerwehrwagen nur noch mit Begleitschutz wagen.
In den heruntergekommenen Sozialbauten aus den 60er und 70er-Jahren, die hier das Bild bestimmen, wohnen die Ärmsten der Armen. Und davon gibt es in Marseille viele. Gut ein Drittel der 851.000 Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze und lebt von weniger als 954 Euro im Monat.
Die Arbeitslosenquote liegt in den nördlichen Vierteln, wo viele Bewohner nordafrikanische Wurzeln haben, bei über 25 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 50 Prozent. Zwei Drittel der Jugendlichen hier haben keinen Schulabschluss, während es landesweit in Frankreich gerade einmal zwölf Prozent sind.
Statt einen Beruf zu erlernen, arbeiten viele von ihnen als Drogendealer und machen sich in ihren Vierteln gegenseitig das Geschäft streitig. Dabei setzen sie sogar Kriegswaffen ein. Das Phänomen ist relativ neu und tauchte erst vor etwa drei Jahren auf obwohl Morde im Milieu eigentlich nichts Neues in Marseille sind.
Doch inzwischen würden sie eher von kleinen Drogenbanden verübt, die sich im Gegensatz zu den Gangsterbossen der Mafia nicht mehr an einen gewissen Ehrenkodex halten, meinen Experten.
Erschossen am hellichten Tag
"Viele haben gedacht, man könnte das Elend der nördlichen Stadtviertel verbergen", sagt die sozialistische Stadtteilbürgermeisterin Samia Ghali. Doch heute müsse Marseille für die politischen Versäumnisse der Vergangenheit bezahlen. Ein tiefer Krater teile die Stadt in zwei Hälften. Tatsächlich könnte der Kontrast zwischen dem Zentrum am alten Hafen und Les Crottes, einem der Viertel im Norden, größer nicht sein.
Am Rand einer Straße, die entlang der Bahnschienen führt, türmen sich Abfall, alte Reifen und ausrangierte Sofas. Der Ort sei abends ein beliebter Treffpunkt von Drogenabhängigen, sagt ein Passant. Nachts sollte man dort besser nicht hingehen.
Ebenfalls im Norden Marseille ist es Anfang September auch zum Mord an Adrien Anigo gekommen. Er ist der Sohn von José Anigo, dem Sportdirektor des Erstligisten Olympique Marseille.
Am helllichten Tage erschossen zwei Motorradfahrer den fast 30 Jahre alten Anigo mit mehreren Schüssen auch das offenbar ein Racheakt im Bandenmilieu.
Adrien Anigo hatte wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an mehreren bewaffneten Raubüberfällen in der Region in den Jahren 2006 und 2007 bereits eine Gefängnisstrafe verbüßt. Wegen eines Verfahrensfehlers war er zum Jahreswechsel 2009/2010 aus der Haft entlassen worden, ein neuer Prozess war geplant.
Die Front National könnte profitieren
"Marseille ist die Stadt mit den größten Unterschieden zwischen Arm und Reich", sagt François Lefebvre. Er arbeitet an einem Gymnasium in einem der Problemviertel und engagiert sich in der linksextremen Partei Nouveau Parti Anticapitaliste.
Das Kriminalitäts-Problem der Stadt könnte der rechtsextremen Partei Front National (FN) bei den Kommunalwahlen Stimmen bringen, fürchtet er. "Vor allem, wenn die Sozialisten keine andere Antwort als das Versprechen haben, den Polizeischutz zu erhöhen", sagt er.
Laut jüngsten Umfragen kann die FN in Marseille auf 25 Prozent der Stimmen hoffen. Damit liegt sie derzeit hinter der konservativen Partei UMP an zweiter Stelle, noch vor den Sozialisten.
"Die Politiker sollten lieber die wahren Wurzeln der Probleme angehen. Dazu gehört die hohe Arbeitslosigkeit. Leider ernährt der Drogenhandel in den Problemvierteln ganze Familien", sagt Lefebvre. Er selber sei noch nie angegriffen worden, obwohl er auf dem Weg zur Arbeit ja ständig durch die Viertel im Norden komme.
"Wir werden beschimpft, bedroht, bespuckt"
Das Pflegepersonal in den Krankenhäusern im Norden Marseilles hat weniger Glück als er. "Wir werden beschimpft, bedroht und bespuckt. Das nimmt immer mehr zu", sagt Krankenschwester Monique Aubin. "Dabei sind wir doch da, um die Leute zu pflegen, ihnen zu helfen."
Nach dem Angriff auf einen Krankenpfleger im August hat die Leitung der Krankenhäuser in Marseille beschlossen, die Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken. Eingänge sollen nachts geschlossen werden und eine Sonderleitung zur Polizei geschaltet werden.
"Auch wenn die Polizei dann schneller kommt, braucht sie immer noch mindestens 15 Minuten", sagt Aubin, die sich in der Gewerkschaft FO engagiert. "Die angekündigten Maßnahmen reichen nicht. Wir fordern, dass innerhalb der Notaufnahme zwei Wachleute postiert werden." Bisher stößt die Forderung auf taube Ohren.
Es sei am Staat, für die Sicherheit in Marseille zu sorgen und dafür ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen, meint Jean-Claude Gaudin, der konservative Bürgermeister von Marseille. Die Stadt sei ebenfalls bereit, Anstrengungen zu unternehmen.
"Alle müssen mit gutem Willen dafür kämpfen, das Image unserer Stadt zu verteidigen", fordert er. "Die Fragen der Sicherheit erlauben momentan zu vielen Politikern und Medien, die Realität zu verdrehen, die Tatsachen aufzubauschen und Marseille zu schädigen. Das muss aufhören."
Leidet bald der Tourismus?
Die ständigen Negativ-Schlagzeilen könnten dem Tourismus schaden, fürchten nicht wenige in Marseille. Für die Stadt ist er eine wichtige Einnahmequelle, seit der ständig bestreikte Hafen im internationalen Vergleich an Bedeutung verloren hat.
Bisher haben sich die Gewaltverbrechen nach Angaben Gaudins nicht negativ ausgewirkt. Stattdessen dürfte die Zahl der Gäste dank des Jahres als Kulturhauptstadt im Vergleich zu 2012 von vier Millionen auf über fünf Millionen steigen.
"Der Großteil der Verbrechen geschieht in den Vierteln im Norden der Stadt", sagt Gaudin. "Die Gewalt ist nicht das, was die Bewohner von Marseille im Alltag erleben und die Touristen noch weniger."
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