Bei ihren Morden liefen die NSU-Täter höchste Gefahr, erwischt zu werden. Bei den Ermittlungen nicht: Eine Zeugenaussage zeigt eine vorurteilsbelastete Polizeiarbeit. Von 

Die Anklagebank im NSU-Prozess im Gerichtssaal 101 in München

Die Anklagebank im NSU-Prozess im Gerichtssaal 101 in München   |  © Peter Kneffel/dpa

Ein rotes Haus mitten in München, im Erdgeschoss ein kleines Ladengeschäft. Hier hatte sich Theodorus Boulgarides eine Existenz aufgebaut. Der Grieche war stolz auf seinen Schlüsseldienst, er arbeitete hart, gönnte sich kaum Freizeit. Am Abend des 15. Juni 2005 endete all das: Boulgarides wurde mit drei Schüssen getötet – nach Ansicht der Bundesanwaltschaft von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.

Der Mord an dem 41-Jährigen ist Thema des 39. Tages im NSU-Prozess, am Nachmittag untersuchte das Münchner Oberlandesgericht dann den Tod des Kasselers Halit Yozgat. Damit sind alle neun Migrantenmorde der NSU-Serie eingeführt. Der Fall der in Heilbronn getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter wird später behandelt.

Kurz nachdem Boulgarides' Geschäftspartner Wolfgang F. die Polizei gerufen hatte, kam Kommissar Thomas M. in das Geschäft. In seiner Aussage legt er dar, dass die Täter ein hohes Risiko eingingen: Direkt vor dem Geschäft hielten demnach zwei Buslinien im Zehn-Minuten-Takt. Zudem kamen Boulgarides' Mörder zu einer Zeit in den Laden, als viele Berufspendler unterwegs waren. Trotzdem fanden sich keine Zeugen, die sie am Tatort sahen – obwohl das Schlüsselgeschäft durch das große Schaufenster von außen gut einzusehen war.

Und wohl auch gut auszukundschaften. Aber: Wie suchten die Täter ihr Opfer aus? Gerade sechs Tage zuvor hatten sie der Anklage zufolge in Nürnberg den Imbissbetreiber Ismail Yasar erschossen. Drei Möglichkeiten sind denkbar: Sie fuhren von Nürnberg nach München und entschieden sich spontan, sie hatten das Ziel lange im Voraus erkundet – oder es gab Helfer vor Ort.

Die letzte These wird durch ein interessantes Detail gestützt: Wolfgang F. hatte am Tag zuvor ausgesagt, das Geschäft sei bis 18 Uhr geöffnet gewesen – die tödlichen Schüsse fielen jedoch gegen 19 Uhr. Möglicherweise hatte Boulgarides seinen Mördern nach Ladenschluss noch die Tür geöffnet.

Wie in vielen anderen Fällen suchten die Ermittler zu Beginn nach Verbindungen des Mords ins Drogenmilieu – Boulgarides' an das Geschäfts angrenzende Wohnung und sein Keller seien mit einem Rauschgifthund durchsucht worden, sagt Kommissar M. Wie bei den anderen NSU-Ermittlungen fand sich nichts.

Nur einen Schatten gesehen

Im Anschluss führt das Gericht den letzten Migrantenmord der NSU-Serie ein: Es geht um den 21-jährigen Kasseler Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in seinem Internetcafé getötet wurde. Auch in diesem Fall wird deutlich: Angst, erwischt zu werden, hatten die Täter nicht. Sechs Kunden waren in dem Café, als gegen 17 Uhr Yozgats Mörder hereinkamen. Er saß an seinem Schreibtisch im Eingangsbereich, wo er von zwei Kugeln aus einer Ceska-Pistole getroffen wurde. Nur wenige Minuten danach kam sein Vater Ismail, der ihn ablösen wollte.

Die Furchtlosigkeit der Täter war offenbar berechtigt – keiner der möglichen Zeugen konnte sie beschreiben. So berichtet es der Kommissar Karl-Heinz G., der in der Mordkommission "Café" ermittelte. In den Telefonzellen des Ladens hielten sich demnach eine Mutter mit ihrem Kind und ein Mann auf. Dieser hörte dumpfe Knallgeräusche, drehte sich um und sah nur einen Schatten aus dem Café huschen. In einem Hinterzimmer standen Computer mit Internetzugang. Dort saßen zwei Jugendliche und ein Erwachsener – der Verfassungsschützer Andreas T., der als einziger die Geräusche nicht gehört haben will. T. ist für eine spätere Sitzung als Zeuge geladen.

Ermittlungen im Familienkreis

Kommissar G. war für die Ermittlungen im Umfeld der Familie mit türkischer Herkunft zuständig. Ismail und Ayse Yozgat hatten vier Töchter und einen Sohn, Halit war "der Mittelpunkt", sagt G. Er beschreibt die Zusammenarbeitet mit der Familie als höchst angenehm: "Herr und Frau Yozgat waren sehr kooperativ, harmonisch und vertrauensvoll." Sie hätten verstanden, dass in einem Mordfall auch in der Familie ermittelt werden müsse. Auch gegen eine Überwachung ihres Telefonanschlusses hätten sie nichts eingewandt.

Letztlich habe sich bei der Familie jedoch kein Mordmotiv ergeben. G. beschreibt sie mit einem Satz, den er für ein Kompliment hält: "Das waren gläubige Muslime, aber westlich orientiert", sagt er, "sie haben sich in unser Gesellschaftssystem sehr gut integriert." Ein Raunen geht durch den Saal – als seien der muslimische Glaube und ein Leben im Westen generell ein Widerspruch.

Der Verdacht liegt nahe, dass ein solches Denken auch die Recherchen der Mordkommission bestimmte. Tatsächlich lief es zwischen Ermittlern und Familie wohl längst nicht so glatt, wie G. es beschreibt. Thomas Bliwier, der Nebenklage-Anwalt der Yozgats, meldet sich: Ob sich Herr Yozgat nicht einmal beschwert hätte, dass die Ermittlungen in die falsche Richtung laufen? "Da können Sie ihn gerne fragen, das glaube ich nicht", entgegnet G.

Bliwier ist anderer Meinung. Er liest G. aus den Prozessakten vor. Demnach vertraute sich Ismail Yozgat einem türkischstämmigen Polizisten an und beschwerte sich über die Arbeit der Mordkommission. Yozgat habe verlangt, die Ermittler sollten endlich aufhören, Familienangehörige zu verdächtigen, beteuerte unter Tränen, niemand habe etwas zu verheimlichen. Eher habe er den Eindruck, hinter dem Mord stecke "ein Spinner, der wahllos Ausländer umbringt". G. sagt, das habe Yozgat ihm gegenüber nicht gesagt. Vom Vermerk seines Kollegen bekam er offenbar nichts mit, "die Mordkommission bestand aus vielen Kollegen", sagt er.

Wie stand es aber um die Ermittlungen im rechten Tätermilieu? G. sagt: "Wir haben alles mit einbeziehen müssen." Dass das tatsächlich geschah, kann er nicht so recht belegen. Anscheinend verließen sich die Kasseler darauf, dass Bundeskriminalamt und Staatsschutz alles klären würden.